Fast alle Leute in meinem Bekanntenkreis – sogar waschechte EU-Skeptiker – sind vom Brexit geschockt und finden die Aussichten gruselig. Scheinbar begreifen jetzt viele Europäer, dass ein geeintes Europa durchaus von Wert ist – und nicht so selbstverständlich, wie wir vielleicht dachten. Allerdings ist dieser Schuss vor den Bug vielleicht ganz heilsam für die EU, um endlich die Reformen und den Imagewandel einzuleiten, der m.E. schon lange nötig ist. Am Negativ-Image als bürokratische Missgeburt, die in erster Linie Geld kostet und nervt, hat Brüssel jahrelang fleißig gearbeitet – während das, was die EU Gutes bewirkt, viel zu wenig sichtbar wird. Selbst das Spaßbad in meiner Heimatstadt wurde gefördert durch EU-Strukturfonds (erkennbar an einem sehr unscheinbaren Schildchen an der hinteren Fassade des Gebäudes). Wenn es jedoch wieder mal eine dämliche Bananen-Verordnung gibt, merken wir das alle. Ich arbeite selber – im weitesten Sinne – für die EU und habe schon meine eigene Sammlung mit bürokratischem Schwachsinn aus Brüssel. Alle 4-7 Jahre ein neues Forschungsrahmenprogramm und eins komplizierter als das andere . Dann müssen meine Kollegin und ich die Wissenschaftler ans Händchen nehmen, damit sie sich im bürokratischen Dschungel der EU-Fördermittel-Beantragung nicht verlaufen und Panik kriegen . Aber will will mich mal nicht beschweren, dafür werden wir schließlich gut bezahlt … Aber das Haupt-Problem ist vielleicht gar nicht die Bürokratie, sondern eine politische Elite, die laufende Meter Entscheidungen zum Nachteil der Bürger trifft und die Stimmung dieser Bürger (die immerhin ihre Wähler sind), mit nahezu dümmlicher Arroganz vom Tisch wischt. Dann wundern sich die Eliten, dass ihre Wähler, die sich jahrelang nicht ernst genommen, nicht mitgenommen fühlen, irgendwann Protest wählen und Populisten auf den Leim gehen. Mit diesem Wahlvolk, das nicht einbezogen, nicht mitgenommen und wohl auch nicht ordentlich informiert ist, eine Volksabstimmung durchzuführen, kann ja nicht gut gehen. Mag sein, dass die britische Mentalität und Nationalstolz auch eine Rolle spielen – aber ich sehe den Brexit ebenfalls als eine Art Protestwahl. Nur das dieses Mal die Folgen viel schwerwiegender sind, als wenn irgendwelche Nasen von der AfD in den Landtag kommen, die man nach 4 Jahren wieder abwählen kann. Die wirtschaftliche Zukunft Großbritanniens steht auf dem Spiel und die Folgen für Europa sind nicht absehbar. Ich bin wirklich eine große Befürworterin der europäischen Idee, kann aber andererseits verstehen, dass sich der geballte Frust der abgehängten Schichten (denn das war es in GB) gegen die EU richtet. Es wird immer wieder kritisiert, die EU-Kommissare leben im Elfenbeinturm, zu weit weg von den aktuellen Problemen und Befindlichkeiten der einzelnen Völker. Dabei kann theoretisch jeder Bürger über europa.eu sein Anliegen oder seine Beschwerde direkt an die Kommission schicken (aber das weiß kaum jemand). So entsteht der Eindruck, die EU mischt sich zu viel in nationale Angelegenheiten ein, manchmal auch zu wenig – aber fast immer an den falschen Stellen. Ich warte ja auch noch sehnsüchtig auf eine EU-Verordnung, die menschenfeindlichen Gesetzen wie Hartz IV oder dem Missbrauch von Zeitarbeit einen Riegel vorschiebt. Aber da können wir wahrscheinlich bis zur nächsten Sonnenfinsternis warten und „freuen“ uns zwischendurch über die neueste Bananen-Vorschrift. Es sei denn, Brüssel wacht endlich auf. Ganz hoffnungslos ist die Lage ja nicht.