“Europa und die Türkei – Rote Linie ohne Konsequenzen” titelt SPIEGEL Online heute und meint damit: Falls Erdogan so weitermacht, kann er die Aussicht auf eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU vergessen. Das Gute: Endlich lässt die EU mal die Muskeln spielen – ein kleines bisschen jedenfalls, mit 5 kg-Gewichten . Leider musste es erst soweit kommen, dass Erdogan ernsthaft die Todesstrafe wieder einführen will. Solange “nur” Zivilisten in Kurden-Gebieten abgeschlachtet, Mädchen zwangsverheiratet und Demonstranten von der Polizei halb tot geprügelt wurden, durfte die Türkei fröhlich weiter ihre Privilegien als EU-Assoziierter Staat genießen . So einen langen Geduldsfaden hatte die EU durchaus nicht immer mit ihren Assoziierten. Erinnert sich noch jemand an diese Volksinitiative der Schweiz zur Begrenzung der Masseneinwanderung 2014? Wahrscheinlich, denn manche Medien hatten einen Aufstand veranstaltet, als würde die Schweiz ihre Grenzen über Nacht komplett dicht machen und die nächste Berliner Mauer rund um ihr Ländle hochziehen. In Wirklichkeit ging es um Höchstzahlen, Kontingente, den Zugang zum Schweizer Sozialsystem und verschärfte Einwanderungsbedingungen – u.a., weil man Lohndumping z.B. durch billige Arbeitskräfte aus Osteuropa verhindern wollte. Natürlich sind die Rechten sofort auf den Zug aufgesprungen, dazu bietet sich das Thema leider an. Was aber kaum jemand weiß: Wenige Tage nachdem die Mehrheit der Schweizer für die Begrenzung der Personenfreizügigkeit in ihrem Land gestimmt hatten, gab es diverse Sanktionen der EU gegen die Schweiz – u.a. ist sie seitdem von den Forschungs- und Studentenaustausch-Programmen “Horizon 2020” und “Erasmus+” ausgeschlossen. OK, sie können immer noch teilnehmen, aber sie bekommen kein Geld mehr (ich weiß das auch nur, weil ich auf Arbeit Horizon2020-Projekte betreue). Man kann zu der Entscheidung der Schweizer stehen, wie man will – aber dass ein bis dato mustergültiges demokratisches Land wegen einem Referendum mit fragwürdigem Ausgang sofort bestraft wird, während Erdogan scheinbar machen kann, was er will, geht nicht in meinen Kopf. Aber dafür hält er uns ja die Flüchtlinge vom Hals (die öfter mal einfach nach Syrien abgeschoben werden, ohne Rücksicht auf Verluste). So versucht also Merkel, mit Herzensgüte zu glänzen – die Drecksarbeit erledigt dann der harte Junge am Bosporus. Wenn das mal nicht gewaltig nach hinten los geht … Die Flüchtkingskrise kriegt man damit jedenfalls nicht langfristig in den Griff.
Schlagwort: Europa
Brexit :(
Fast alle Leute in meinem Bekanntenkreis – sogar waschechte EU-Skeptiker – sind vom Brexit geschockt und finden die Aussichten gruselig. Scheinbar begreifen jetzt viele Europäer, dass ein geeintes Europa durchaus von Wert ist – und nicht so selbstverständlich, wie wir vielleicht dachten. Allerdings ist dieser Schuss vor den Bug vielleicht ganz heilsam für die EU, um endlich die Reformen und den Imagewandel einzuleiten, der m.E. schon lange nötig ist. Am Negativ-Image als bürokratische Missgeburt, die in erster Linie Geld kostet und nervt, hat Brüssel jahrelang fleißig gearbeitet – während das, was die EU Gutes bewirkt, viel zu wenig sichtbar wird. Selbst das Spaßbad in meiner Heimatstadt wurde gefördert durch EU-Strukturfonds (erkennbar an einem sehr unscheinbaren Schildchen an der hinteren Fassade des Gebäudes). Wenn es jedoch wieder mal eine dämliche Bananen-Verordnung gibt, merken wir das alle. Ich arbeite selber – im weitesten Sinne – für die EU und habe schon meine eigene Sammlung mit bürokratischem Schwachsinn aus Brüssel. Alle 4-7 Jahre ein neues Forschungsrahmenprogramm und eins komplizierter als das andere . Dann müssen meine Kollegin und ich die Wissenschaftler ans Händchen nehmen, damit sie sich im bürokratischen Dschungel der EU-Fördermittel-Beantragung nicht verlaufen und Panik kriegen . Aber will will mich mal nicht beschweren, dafür werden wir schließlich gut bezahlt … Aber das Haupt-Problem ist vielleicht gar nicht die Bürokratie, sondern eine politische Elite, die laufende Meter Entscheidungen zum Nachteil der Bürger trifft und die Stimmung dieser Bürger (die immerhin ihre Wähler sind), mit nahezu dümmlicher Arroganz vom Tisch wischt. Dann wundern sich die Eliten, dass ihre Wähler, die sich jahrelang nicht ernst genommen, nicht mitgenommen fühlen, irgendwann Protest wählen und Populisten auf den Leim gehen. Mit diesem Wahlvolk, das nicht einbezogen, nicht mitgenommen und wohl auch nicht ordentlich informiert ist, eine Volksabstimmung durchzuführen, kann ja nicht gut gehen. Mag sein, dass die britische Mentalität und Nationalstolz auch eine Rolle spielen – aber ich sehe den Brexit ebenfalls als eine Art Protestwahl. Nur das dieses Mal die Folgen viel schwerwiegender sind, als wenn irgendwelche Nasen von der AfD in den Landtag kommen, die man nach 4 Jahren wieder abwählen kann. Die wirtschaftliche Zukunft Großbritanniens steht auf dem Spiel und die Folgen für Europa sind nicht absehbar. Ich bin wirklich eine große Befürworterin der europäischen Idee, kann aber andererseits verstehen, dass sich der geballte Frust der abgehängten Schichten (denn das war es in GB) gegen die EU richtet. Es wird immer wieder kritisiert, die EU-Kommissare leben im Elfenbeinturm, zu weit weg von den aktuellen Problemen und Befindlichkeiten der einzelnen Völker. Dabei kann theoretisch jeder Bürger über europa.eu sein Anliegen oder seine Beschwerde direkt an die Kommission schicken (aber das weiß kaum jemand). So entsteht der Eindruck, die EU mischt sich zu viel in nationale Angelegenheiten ein, manchmal auch zu wenig – aber fast immer an den falschen Stellen. Ich warte ja auch noch sehnsüchtig auf eine EU-Verordnung, die menschenfeindlichen Gesetzen wie Hartz IV oder dem Missbrauch von Zeitarbeit einen Riegel vorschiebt. Aber da können wir wahrscheinlich bis zur nächsten Sonnenfinsternis warten und „freuen“ uns zwischendurch über die neueste Bananen-Vorschrift. Es sei denn, Brüssel wacht endlich auf. Ganz hoffnungslos ist die Lage ja nicht.